blind

Pierre Vidal, der Musiker

VidalEine Biographie über Pierre Vidal hätte nichts besonders Herausragendes vorzuweisen: Ausschließlich Musik bestimmt und erfüllt völlig sein ganzes Leben.

Man merke jedoch, daß sein starker Drang zur Orgel bereits aus seiner Kindheit herrührt.
Danach gibt es kurze und wenig gewinnbringende Begegnungen mit einigen Professoren des Pariser Conservatoires; einige gehaltvolle Gespräche mit Karl Münchinger. Entscheidend: die Klavierabende des ganz großen Pianisten Alexander Brailowsky unmittelbar nach Kriegsende, ergänzt durch dessen Aufnahmen aus den dreißiger Jahren, sowie durch die Hörerlebnisse der Schallplatten solcher Künstler wie Wilhelm Furtwängler, Willem Mengelberg und Edwin Fischer.

Hervorzuheben sei sein aüßerst umfangreiches musikalisches Wissen, einhergehend mit einem lückenlosen Gedächtnis und einem mit kritischer Neugierde fortwährenden Hinhören. Dieses aus seinem ganzen Wesen heraus geschehende Horchen ermöglicht es ihm aus der Musik eine Gestalt, eine Geschichte, einen psychologischen Zustand, oder auch ein Geständnis herauszuhören: sei es aus einer japanischen Flötenmelodie, aus einem Gregorianischen Offertorium - mit Dom Guéranger, den er hier als Dirigenten bewundert - , oder aus den Werken eines Byrd, Couperin, Beethoven, Chopin, Debussy, Stravinsky und allen voran Bach - so er darin den angemessenen Ausdruck tief verwurzelter, meisterhaft erfinderischer Tonsprache vorfindet.

Als Leser gilt sein Interesse sowohl Valéry als auch Schönbergs Harmonielehre. Sei es eine romanische Abtei oder auch Michelangelo, beides findet seine Bewunderung. Als erstaunlicher Klaviervirtuose offenbart er eine ganze innere Welt, die nur seinen nächsten Freunden zuteil wurde.

Die Orgel jedoch hat seine ganze Aufmerksamkeit beansprucht. Sehr früh wurde er sich einer wichtigen, ausserachtgelassenen Frage bewußt: wie kann ein statisches Instrument ausdrucksvoll sein, falls Musik etwas Anderes als nur ein ordnungsgemäßes Zusammengefüge einiger bedeutungslos schwingender Klänge ist? Er hat dies in seinem Schriftwerk "Bach und die Orgelmaschine" erläuternd dargestellt. Danach - und dies war er seinen Lesern schuldig - kamen denkwürdige Plattenaufnahmen deren Interpretationsgrundlagen in "Bach - die Psalmen, Passionen, Bilder und Strukturen im Orgelwerk" aufzufinden sind. Diese musikanalytischen Betrachtungen bieten die mit größter Wahrscheinlichkeit passenden Texte dieses oder jenes Psalms an, als Ausdruck der Partitur. Somit bekommen gewisse Seltsamkeiten in Bachs Werk ihren Sinn und Grund. Die Praeambel bringt es wunderbar auf den Punkt: Bachs Orgelmusik ist das Werk eines Predigers.

Hieraus folgt also, daß beim ungebildet, störrisch und subjektiv gebliebenen Interpretationsversuch, fortan jegliches Gleichsetzen Bachs mit einem verzierten Virtuosen dessen Kunst nur zur leeren Architektur reduziert, sich als geradezu ungehörig erweisen wird. Wobei es stimmt, daß jene Auffassung in eine Zeit in der der Mensch zur unbedeutenden, musikwissenschaftlich "betreuten" Figur geworden, passen könnte.

Diesem Gründerschaffen, dessen Notwendigkeit sich erst im Laufe der Zeit offenbart, muss das Werk des Komponisten Vidal hinzugefügt werden. So seien erwähnt:
Eine Messe für Orgel, Solisten und Kirchengemeinde, seinerzeit in der pariser Kirche St-Jacques-du-Haut-Pas uraufgeführt.
Die Herausgabe verschiedener Orgelwerke, allesamt perfekt aufs Instrument zugeschnitten, mit herrlichen Neuerungen, wobei alle Gemütsstimmungen - von zärtlich bis schaudernd in souveräner Schrift umgesetzt werden.
Hervorzuheben sei da noch seine Basso Continuo-Ergänzung der "Leçons de Ténèbres" (Lektionen der Finsternis) von F.Couperin, wobei der entsprechende Text durch einen völlig wiederhergestellten musikalischen Horizont aufgewertet wird.
Und, hochanspruchsvoll zu lesen, von erhabener Kunst: eine analytische Betrachtung der Bachschen "Kunst der Fuge".

Seine jüngste Arbeit in Zusammenarbeit mit Olivier Baur wurde in 2008 durch das Musikfestival Wissembourg veröffentlicht. "J.S. Bach : Eine Hommage an G. Frescobaldi" (in französischer Sprache).

Dies ist das Werk des Pierre Vidal, wie es während gut sechzig der Musik gewidmeten Lebensjahren entstanden ist. Seine Gabe, sich dem Staunen und den analytischen Betrachtungen hinzugeben, mit den Tasteninstrumenten umzugehen, ergeben - für jene, die noch in der Lage sind zuzuhören, fern jener geschäftsträchtigen Konformismen - ein Abenteuer voll der Großmut und Leidenschaft, mit seinen unaufhörlich wiederkehrenden Anfängen.

Michel Beaulieu (2006)
Übersetzung Hermann Ebeling